Phytotherapie

 

Die Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) wird von allen Kulturen der Erde angewendet, wobei verschiedene Kulturen oft dieselben Kräuter gegen die gleichen Beschwerden anwenden. So sind in einem ägyptischen Papyrus aus dem 17. Jahrhundert vor Christus z. B. Kümmel, Leinsamen und Hanf beschrieben.

Die traditionelle Phytotherapie

Die auf jahrhundertelange Erfahrung aufbauende traditionelle Phytotherapie (traditionelle Pflanzenheilkunde, Kräutermedizin) verwendet die aus vollständigen Pflanzen oder Pflanzenteilen gewonnenen Komplettauszüge wie Aufgüsse oder Tees, die vor allem als Teil der Selbsthilfe genutzt werden.

Die erfahrungsheilkundlich orientierte Phytotherapie wird manchmal auch als Klostermedizin bezeichnet, da es im Mittelalter die Klöster waren, die das pflanzenheilkundliche Wissen bewahrten und vermehrten.

Viele der etwa 700 hierzulande verwendeten Arzneipflanzen sind im Arzneibuch (Herausgeber: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) beschrieben. Hier sind solche Kräuter aufgeführt, deren Inhaltsstoffe chemisch genau charakterisiert sind. Im Arzneibuch ist festgelegt, welche Pflanzenteile wie verwendet werden, wie sie zu lagern sind und wie ihre Qualität zu prüfen ist.

Apotheken (nicht aber Nahrungsmittelläden oder Drogerien) müssen sich an die Qualitätsvorschriften des Arzneibuchs halten, sodass eine verlässliche pharmazeutische Güte der Produkte anzunehmen ist. Ein Wirkungsnachweis muss für die traditionell angewendeten Heilkräuter nicht erbracht werden.

Mit wenigen Ausnahmen (etwa Pflanzen mit gefährlichen Nebenwirkungen) sind Heilpflanzen frei verkäuflich.

Viele der Überlieferungen im Bereich der traditionellen Phytotherapie sind nicht wissenschaftlich untermauert und damit auch offen für Deutungen und Umdeutungen. So beruft sich etwa die ab den 1970er Jahren entwickelte Hildegard-Medizin auf das Wissen der Nonne Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert, kann aber für die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Therapien keine ausreichenden wissenschaftlichen Beweise erbringen. Dasselbe gilt für die in den 1980er Jahren berühmt gewordene Kräuterfibel der Maria Treben: „Gesundheit aus der Apotheke Gottes“.

Die (teils recht aggressiv vermarkteten) Verfahren der Hildegard-Medizin berufen sich auf die Lehren der Hildegard von Bingen, einer adeligen Äbtissin aus dem 12. Jahrhundert. In ihren Schriften stellte sie mehr als 1 800 Rezepte aus Mitteln der Natur vor (meist Pflanzen und Steine). Zudem propagierte sie ausleitende Verfahren, zu denen sie auch Saunaanwendungen und spezielle Fastenregeln rechnete. Detaillierte, an der damaligen Säftelehre orientierte Ernährungsregeln, sollen die Behandlung von Krankheiten unterstützen. Interessant sind auch die von ihr in einem separaten Werk vorgestellten Empfehlungen zur seelischen Gesunderhaltung.

Einige der von Hildegard von Bingen empfohlenen Pflanzen decken sich mit den Empfehlungen der heutigen (Rationalen) Phytotherapie, andere Pflanzen werden nur in ihrer Lehre genannt. Interessanter (und moderner) als die heute oft in den Vordergrund gestellte Pflanzenmedizin sind Hildegards Ernährungsempfehlungen, die einer ausgewogenen Vollwertkost recht nahe kommen. Modern muten auch ihre Ausführungen zur Entstehung psychischer Störungen an, die durchaus mit den heutigen Erkenntnissen der Psychosomatik und der Psychoneuroimmunologie vereinbar sind. So ging Hildegard von Bingen davon aus, dass der Mangel an „lebensbejahenden Gefühlen“ nicht nur seelische, sondern auch körperliche Krankheiten entstehen lasse.

Die Rationale Phytotherapie

Die Rationale Phytotherapie (auch moderne oder naturwissenschaftlich orientierte Phytotherapie) dagegen bedient sich pharmazeutischer Verfahren, um die Heilpflanzen und ihre zu nutzenden Pflanzenteile wie Blätter oder Wurzeln („Droge“) – weiterzuverarbeiten. Dabei werden die enthaltenen Wirkstoffe extrahiert, konzentriert und manchmal sogar einzelne Inhaltsstoffe der Arzneipflanze abgetrennt. Die moderne Pflanzenmedizin kann dadurch die Wirkstoffe der Heilpflanze in möglichst gleichbleibender Konzentration zu pflanzlichen Fertigmedikamenten, den so genannten Phytopharmaka verarbeiten, von denen etwa 5 000 in deutschen Apotheken gehandelt werden. Pflanzliche Arzneimittel werden als standardisierte Präparate bezeichnet, wenn zumindest von dem hauptsächlichen Wirkstoff eine garantierte Menge enthalten ist.

Der Beginn der Rationalen Phytotherapie reicht immerhin 200 Jahre zurück: 1811 gelang es dem Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner erstmals eine Einzelsubstanz aus einer Pflanze zu isolieren und zwar das Morphin. Seit der Nachkriegszeit kann die pharmazeutische Industrie die pflanzlichen Inhaltsstoffe auch chemisch umbauen oder komplett künstlich nachbauen (synthetisieren). Einige der wichtigsten schulmedizinischen Arzneien sind nachgebaute Pflanzenwirkstoffe, wie etwa die bei Herzschwäche angewendeten Digitalis-Präparate, die aus Schimmelpilzen abgeleiteten Penicilline und die ursprünglich aus Weidenrinde gewonnene Salicylsäure, der Wirkstoff etwa im Aspirin®. Es wird geschätzt, dass die Mehrzahl der heute in der Schulmedizin verwendeten Präparate ursprünglich von Pflanzenwirkstoffen abstammt. Die Übergänge von der Pflanzenheilkunde zur Schulmedizin sind also fließend.

Wirknachweise

Die phytotherapeutischen Fertigarzneimittel müssen in Deutschland genauso wie synthetische Arzneimittel vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen werden. Für die uneingeschränkte Zulassung müssen sie einen wissenschaftlichen Wirknachweis erbringen. Für die neueren pflanzlichen Präparate werden hier dieselben Standards verlangt wie bei der Zulassung eines synthetischen Präparats – also methodisch einwandfreie Studien an einer ausreichenden Patientenzahl (Doppelblindstudien). Nur solche Präparate können heute auf Kassenrezept verordnet und damit von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Pflanzliche Arzneimittel, die diese – hohen und kostenintensiven – Anforderungen nicht erfüllen, können als traditionelle pflanzliche Heilmittel registriert und vertrieben werden, sofern ihre Anwendung auf einer mindestens 30-jährigen Tradition beruht, ihre Wirkung nach den bereits in der Literatur vorhandenen Studien plausibel und ihre Unbedenklichkeit nach dem Stand der Wissenschaft anzunehmen ist. Die Packungsbeilage enthält in diesem Fall die Formulierung „Traditionell angewendet bei...".

Anwendung und Bewertung

Pflanzen sind so individuell wie Menschen – je nach den Wuchs- und Erntebedingungen sowie den Herstellungsverfahren schwankt die Menge und Zusammensetzung der Wirkstoffe. Bei nach wissenschaftlichen Standards getesteten Heilpflanzen empfiehlt es sich deshalb auf standardisierte Präparate zurückzugreifen – damit ist garantiert, dass der entscheidende Wirkstoff auch tatsächlich in ausreichender Konzentration vorliegt. Beispiel depressive Verstimmungen: Ein Tee mit selbst gepflücktem und selbst zubereitetem Johanniskraut mag einen Versuch wert sein, richtig Erfolg versprechend ist aber nur die Verwendung eines standardisierten Präparats in ausreichender Dosierung.

Risiken und Nebenwirkungen

Meist ist das Verhältnis zwischen erwünschten und unerwünschten Wirkungen in der Phytotherapie gut. Die Herstellung von Heilpflanzen ist heute gut kontrolliert und praktisch alle hierzulande gehandelten Arzneipflanzen stammen aus kontrolliert ökologischem Anbau. Allerdings: „Rein pflanzlich“ bedeutet nicht unbedingt „harmlos“. Beispielsweise kann Beinwell bei Daueranwendung das Krebsrisiko erhöhen und allergische Reaktionen sind auch auf Heilpflanzen möglich. Deshalb sollten Heilpflanzen wie andere Medikamente ohne ärztlichen Rat nicht über einen längeren Zeitraum eingenommen werden. Und vor allem bei Kindern und in der Schwangerschaft sollte der Arzt befragt werden.