Übergewicht und Adipositas bei Kindern

Übergewicht: Zu hohes Körpergewicht (über der 90 %-Perzentilenkurve gleichgeschlechtlicher Altersgenossen). Viele dieser Kinder haben langfristig mit Gesundheitsproblemen zu rechnen.

Adipositas (krankhaftes Übergewicht, Fettleibigkeit, Fettsucht): Wesentlich zu hohes Körpergewicht (über der 97 %-Perzentilenkurve gleichgeschlechtlicher Altersgenossen). Fast alle dieser Kinder haben über kurz oder lang mit gesundheitlichen Problemen zu rechnen.

Als Basis für die Beurteilung des Körpergewichts dienen spezielle Kurven (Perzentilenkurven), an denen abgelesen werden kann, wo ein Kind im Vergleich zur gleichalten Normgruppe steht. Sie sind Basis für den altersbezogenen Body-Mass-Index (BMI) zur Beurteilung des Übergewichts bei Kindern (siehe Somatogramm). Heute sind in Deutschland nach dieser Einteilung etwa 15 % der Schulkinder übergewichtig, 6 % sind adipös. Und jedes Jahr kommen 0,5–1 % übergewichtige und etwa 0,2–0,5 % adipöse Kinder hinzu.

Trotzdem ist es nicht ganz richtig, von einer Epidemie zu sprechen: Regelmäßige Messungen über die letzten Jahre zeigen, dass der BMI bei Kindern in den deutschsprachigen Ländern insgesamt nur wenig anstieg. Es gibt in deutschen Schulen noch genauso viele dünne Kinder wie vor 20 Jahren, die dicken Kinder sind jedoch deutlich dicker geworden. Und Adipositas betrifft in erster Linie eine Risikogruppe von Kindern aus sozial benachteiligten Familien sowie Immigrantenfamilien.

Die Erkrankung

Im Vergleich zu Erwachsenen spielt beim Entstehen von Übergewicht bei Kindern Bewegungsmangel eine größere Rolle als Überernährung, aber diese Aussage ist wissenschaftlich nur schwer zu sichern. Tatsache ist, dass die Portionsgrößen beim kommerziellen Nahrungsangebot stark zugenommen haben, und dass über die Hälfte der Kleinkinder regelmäßig zu kaloriendichte und zu süße Kindernahrung (z. B. Fruchtzwerge oder Fastfood) konsumiert.

Frühe Prägungen. Zum Teil lässt sich das Übergewicht von Kindern auf frühe Prägungen zurückführen.

Schon im Mutterleib werden möglicherweise die ersten Weichen für späteres Übergewicht gestellt:

  • So dürfte die vorgeburtliche Programmierung des Stoffwechsels eine Rolle spielen: Im Mutterleib unterversorgte Kinder stellen ihren Stoffwechsel langfristig auf "Sparbetrieb" um. Deshalb sind im Mutterleib unterversorgte Neugeborene im Erwachsenenalter häufiger übergewichtig.
  • Dazu passt auch, dass mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft das spätere Adipositas-Risiko deutlich erhöht.

Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass die Fütterung mit Säuglingsmilchnahrungen Übergewicht begünstigt: So liegt das Körpergewicht von mit Säuglingsmilchnahrungen ernährten Kindern im Vergleich zu gestillten Kindern am Ende des ersten Lebensjahres bis 650 g höher. Das wird dadurch erklärt, dass nicht oder nur teilweise gestillte Kinder im Vergleich zu voll gestillten Kindern 20 % mehr Kalorien zu sich nehmen. So haben gestillte Kinder nicht nur ein insgesamt geringeres Risiko für späteres Übergewicht im Kindesalter, sondern sind auch weniger anfällig für Allergien.

Wie eine US-amerikanische Studie belegt, fördert jedoch nicht jede Säuglingsnahrung das Dicksein. Vielmehr hängt es davon ab, ob die Babys Nahrung aus getrockneter Kuhmilch erhalten oder aus Hydrolysaten, das heißt aus zerkleinerten Eiweißen. Solch eine Hydrolysatmilch bekommen vor allem Säuglinge mit einer Milchzuckerunverträglichkeit gefüttert. Sie eignet sich aber auch für alle anderen Babys, da sie einer übermäßigen Gewichtszunahme und damit Übergewicht vorbeugt. Der Grund: Der Darm verwertet Hydrolysate besser als Kuhmilcheiweiße und sorgt so für ein frühzeitigeres Sättigungsgefühl. Dadurch nahmen in der Studie die Säuglinge, die mit Hydrolysatmilch gefüttert wurden, auch viel langsamer zu als die mit Kuhmilch gefütterten Babys.

Bewegungsmangel. Der zunehmende Bewegungsmangel bei Kindern schlägt sich in Fitnessuntersuchungen deutlich nieder: Konnten 1995 Berliner Schülerinnen mit elf Jahren durchschnittlich noch 3,10 m weit springen, so waren es vier Jahre später nur noch 2,78 m. Die Jungen stehen nicht nach: Zehnjährige Jungen, die 1970 im Schnitt bei einem 6-Minuten-Sprint noch 1.150 m weit kamen, schaffen es heute nicht einmal mehr bis zur 900-m-Marke. Nach neueren Untersuchungen beginnt der Bewegungsmangel schon sehr früh im Kleinkindalter.

Soziale Ursachen. Bei der Frage, warum sich Kinder heute weniger bewegen, schwingt immer die implizite Schuldfrage mit. Dabei hat Bewegungsmangel oft nichts mit bewussten Entscheidungen zu tun, sondern geht zumindest teilweise auf Änderungen der Lebenswelt zurück. Tatsache ist, dass die Lebenswelt von Kindern heute stärker vereinzelt (weniger Spielpartner in unmittelbarer Nähe), verinselt (Freunde können nicht zu Fuß erreicht werden) und entstraßlicht ist (die Straße als Spielraum entfällt). Zudem entfallen wichtige Bewegungsroutinen für Kinder (z. B. der Schulweg). Gleichzeitig stehen attraktive, aber bewegungsarme Freizeitbeschäftigungen wie Fernsehen und Computerspiele zur Verfügung.

Die Entwicklung des Fettkörpers bei Kindern

Kinder starten ihr Leben mit einer Fettmasse von etwa 11 % des Körpergewichts, die sich bis Ende des ersten Jahres auf 25 % erhöht (Babyspeck). Diese Fettzunahme ist genetisch programmiert. Ebenso programmiert ist die danach folgende Phase der Rückbildung des Fettgewebes, bis ins Alter von etwa 5 ½ Jahren. Am Ende der Kindergartenzeit hat der BMI sein Minimum erreicht – in diesem Alter sollten Kinder mager sein. Erst mit dem Ende des sechsten Lebensjahres steigt die Fettmasse wieder langsam an (so genannter adiposity rebound), und nimmt dann mit der Pubertät – v. a. bei Mädchen – stark zu.

Das macht der Arzt

Wie bei Erwachsenen schließt der Arzt zunächst Krankheiten als mögliche Ursachen aus und untersucht das Kind auf bereits vorhandene Schäden.

Ab wann einem adipösen Kind eine Therapie anzuraten ist, ist derzeit nicht zu beantworten. Langfristige, d. h. über drei bis fünf Jahre anhaltende Erfolge, sind bisher nicht sicher nachgewiesen. Ob die Therapie nur nichts nutzt oder vielleicht sogar schadet, ist ebenfalls nicht bekannt – mögliche Nachteile der fast immer scheiternden Gewichtsreduktion auf die emotionale Entwicklung des Kindes sind nicht ausgeschlossen.

Von den etwa 1.000.000 adipösen Kindern in Deutschland werden derzeit etwa 1,2 % in ambulanten Therapieprogrammen behandelt. Derartige Therapieprogramme für Kinder unter sechs Jahren stehen bisher nicht zur Verfügung.

Die Krankenkassen erstatten die Kosten einer Therapie derzeit nur in extremen Fällen, sowie bei zusätzlichen Risikofaktoren oder Krankheiten.

Therapieziele. Oft steht die Reduktion des BMI im Vordergrund. Dazu reicht bei noch wachsenden Kindern in der Regel aus, das Körpergewicht zu halten. Wichtiger sind aber auch bei Kindern positive Stoffwechseleffekte durch Umstellung der Ernährung und vor allem durch Bewegung.

Vor Diäten muss gewarnt werden. Dieses Prinzip versagt schon bei Erwachsenen, zudem ist wissenschaftlich bewiesen, dass Kinder, die ihr Übergewicht immer wieder mit Diäten bekämpfen, häufiger Essstörungen bekommen wie Bulimie oder Magersucht und insgesamt deutlich mehr an Gewicht zunehmen.

Medikamente und Formeldiäten spielen bisher keine Rolle in der Therapie des kindlichen Übergewichts. Die operative Therapie wie etwa ein Banding des Magens kann bei schwersten Formen nach Scheitern der konventionellen Therapie erwogen werden. Dass die Übergewichtschirurgie auch bei Jugendlichen wirksam ist, ist nachgewiesen; allerdings sind Komplikationen nicht auszuschließen.

Prognose

Adipositas bei Kindern hat langfristig die gleichen Folgen wie Adipositas bei Erwachsenen, manche Schäden treten schon im Kindesalter auf. Je früher im Leben die Adipositas beginnt, desto schwerwiegender sind die späteren Folgekrankheiten:

  • Bei immerhin einem Drittel der adipösen Kinder lassen sich Störungen des Zuckerstoffwechsels nachweisen, 1 % hat bereits einen Typ-2-Diabetes.
  • Fettstoffwechselstörungen liegen bei einem Viertel der übergewichtigen Kinder vor.
  • Auch psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten sind bei übergewichtigen Kindern häufiger (der ursächliche Zusammenhang ist allerdings wie bei Erwachsenen nicht gesichert).
  • Störungen im Hormonhaushalt: Die erste Regelblutung tritt wegen der vermehrten Östrogenproduktion im Fettgewebe früher ein, Zyklusstörungen sind häufig. Auch beschleunigt sich das Längenwachstum bei adipösen Kindern oft stark (da es aber früher zum Stillstand kommt, ist die Endgröße in etwa gleich).
  • Am Skelett drohen früh Überlastungserscheinungen, vor allem eine Ablösung der Wachstumsfuge des Oberschenkelkopfs sowie eine Wachstumsstörung der Schienbeine mit Bildung von O-Beinen.

Vorsorge

Auch wenn inzwischen die Politik das Problem erkannt zu haben scheint: Für die Vorbeugung gibt es bisher kein Patentrezept.

Verhaltenspräventive Strategien (d. h. auf eine Änderung des individuellen Verhaltens zielende Maßnahmen) haben sich als ineffektiv erwiesen. Wenn überhaupt, sind dadurch nur motivierte Kinder aus besser gestellten Familien zu erreichen. Der für die mittleren bildungsbürgerlichen Schichten typische Essstil (regelmäßig Obst und Gemüse, wenig Fett, mäßig Fleisch) lässt sich kaum auf Familien mit niedrigem Bildungsstand übertragen.

Verhältnispräventive Strategien (d. h. auf eine Änderung der Verhältnisse zielende Maßnahmen, etwa im Bereich des Transportwesens, der Nahrungsmittelindustrie oder an Kindergärten und Schulen) sind bisher politisch kaum durchzusetzen.

Dem Resümee einer kürzlich erschienenen Übersichtsarbeit ist deshalb leider zuzustimmen: „Es muss bald etwas getan werden, aber wir wissen nicht was.“

Die Präventionsfalle. Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist die Wahrnehmung der Eltern: Während die Gesellschaft kindliches Übergewicht immer stärker zum Thema macht, scheinen die Eltern in einer Art Wahrnehmungsfalle zu sitzen und das Übergewicht bei ihren Kindern nicht richtig einschätzen zu können. So unterschätzen nur 10 % der Mütter in Studien ihr eigenes Gewicht – dagegen unterschätzen 28 % das ihrer Kinder.

Kollateralschäden der Prävention? Die meisten Jugendlichen, die derzeit abnehmen wollen, erleben weder gesundheitliche noch kosmetische Vorteile, sehr wohl aber die mit vielen Diäten verbundenen Nachteile. Darüber hinaus hängt die vor allem bei weiblichen Teenagern extreme Verbreitung des Rauchens (derzeit über 40 % bei den 16- bis 19-Jährigen) möglicherweise mit dem Wunsch nach einem niedrigen Körpergewicht zusammen, denn Nikotin ist erwiesenermaßen ein effektiver Appetithemmer.